HNO-Schwarmintelligenz für Innovationen
Im Interview: Dr. Uso Walter, Mitgründer von HNOnet
HNO-Arzt in Duisburg, Tinnitus-Experte bei YouTube und Pionier in der DiGA-Branche – Dr. Uso Walter hat in vielen Feldern große Erfolge erzielt. Zum Teil aus der Not heraus und zusammen mit anderen. Mit Simeon Atkinson, Mitgründer und Geschäftsführer der Achtung! InnoHealth, spricht er darüber, dass besonders auch Ärzt*innen gemeinsam – organisiert in Netzwerken – mehr bewegen können.
Herr Dr. Walter, vor 15 Jahren haben Sie sich mit anderen HNO-Praxen aus der Region zusammengetan und eine Genossenschaft mit dem Namen HNOnet gegründet. Was war das Ziel?
Ich habe mich vor 29 Jahren als HNO-Facharzt in Duisburg niedergelassen und in den folgenden 14 Jahren jedes Jahr weniger Honorar für immer mehr Leistungen bekommen. Irgendwann wurde das existenzgefährdend. Als dann noch ins Gespräch kam, die Kassenärztlichen Vereinigungen abzuschaffen, wurde klar, dass es so nicht weitergehen kann und dass wir in NRW einen starken Zusammenschluss von niedergelassenen HNO-Fachärzt*innen brauchen, um unsere berechtigten Interessen durchzusetzen. Wir haben uns dann mit weiteren Praxen abgesprochen und eine Genossenschaft gegründet. Im Gegensatz zum Berufsverband, der eher bundespolitisch und fachlich-inhaltlich orientiert war, standen bei uns von Anfang an die wirtschaftlichen Aspekte der Selbstständigkeit im Vordergrund. Unsere Philosophie war es, eine möglichst gute Patientenversorgung für ein angemessenes Honorar anzubieten, unabhängig davon, ob diese Leistungen Bestandteil der kassenärztlichen Versorgung waren oder nicht. Im Laufe der ersten Jahre konnten wir dann etwa 400 HNO-Fachärzt*innen als Mitglieder gewinnen.
Wie haben sich die Ziele des HNOnet bis heute verändert?
Oberste Ziele sind nach wie vor der Erhalt der Freiberuflichkeit und eine möglichst gute Patientenversorgung. Um diese Ziele zu erreichen, müssen Praxen vor allem wirtschaftlich arbeiten. Dafür bedarf es weiterer Einnahmequellen wie Selektivverträge mit einzelnen Kassen für bestimmte Zusatzleistungen für GKV-Patient*innen oder medizinisch sinnvolle Wahlleistungen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Beratung, wie die aktuellen Abrechnungsmöglichkeiten optimiert werden können.
Der zweite wichtige Aspekt ist die fachliche Kompetenz unserer Mitglieder. Nur so bleiben Praxen konkurrenzfähig und können sich von anderen Anbietern abgrenzen. Praxisnahe Fortbildungen, regelmäßige Whitepaper und das Lernen voneinander stehen daher im Mittelpunkt unserer Tätigkeit. Dabei ist es uns auch sehr wichtig, unsere Kompetenz nach außen hin zu zeigen. Unsere regelmäßig aktualisierte Webseite spielt daher für unsere interne und externe Kommunikation eine große Rolle.
Zur Kompetenz gehören auch die Innovation und die Bereitschaft, neue Wege zu gehen. Das schließt explizit auch digitale Hilfen ein, die wir vor allem auch als Chance sehen, unsere Praxen zukunftsfähig zu machen. Auch hier ist das HNOnet immer Vorreiter gewesen, beispielsweise durch die Einführung von Webinaren – schon lange vor Corona – oder die regelmäßige Berichterstattung über DiGA, Videosprechstunden oder digitale Terminverwaltungssysteme.
Um Ihre Frage abschließend kurz zu beantworten: Die Ziele sind gleich geblieben, aber die Wege dorthin ändern sich ständig.
Neben dem HNOnet haben Sie sich auch selbst einen Namen gemacht – zum Beispiel mit YouTube-Videos über Tinnitus. Mehrere Millionen Views und auch ein Sachbuch sind daraus geworden. Warum dieses Engagement?
Ich habe einfach gemerkt, dass es nicht sehr wirtschaftlich und auch nicht im Sinne der Patient*innen ist, komplexere Krankheitsbilder immer wieder zu erklären. Das ist in einer normalen HNO-Sprechstunde auch gar nicht möglich, weswegen viele Ärzt*innen von vornherein kapitulieren und gar nichts erklären. Da ich mich früh auf die besonders erklärungsbedürftigen otoneurologischen Erkrankungen wie Tinnitus und Schwindel spezialisiert hatte, musste eine Lösung her. Ich fing deshalb mit Patientenvorträgen an, habe dann aber gemerkt, dass ich die Reichweite mit einem YouTube-Kanal und später einem Buch noch einmal deutlich erhöhen kann. Dass vor allem der YouTube-Kanal eine so große Reichweite erzielt hat, war nicht abzusehen, zeigt aber den riesigen Bedarf.
Um mehr Menschen zu helfen, haben Sie sich dann zunehmend mit digitalen Therapiemöglichkeiten befasst und in den 2010er-Jahren eine kleine Firma gegründet. Später wurde daraus Deutschlands erste Digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) kalmeda, die bis heute zu den erfolgreichsten zählt. Wie kam es dazu?
Die Aufklärung der Patient*innen ist das eine, die erfolgreiche Behandlung noch einmal etwas ganz anderes. In meinen Videos konnte ich den Tinnitus-Betroffenen zwar erklären, was sie haben und wie man das auch erfolgreich behandeln kann, die dafür notwendige kognitive Verhaltenstherapie stand ihnen aber de facto nicht zur Verfügung. Erstens, weil die Wartezeiten häufig mehr als ein Jahr betragen und zweitens, weil in Deutschland eine Verhaltenstherapie bei Tinnitus gar nicht verordnet werden darf. Erst wenn Patient*innen depressiv wurden oder eine Angststörung oder ein Burn-out-Syndrom entwickelten, konnte der Arzt oder die Ärztin sie zum Psychologen oder zur Psychologin schicken. Aufgrund von digitalen Vorbildern aus Skandinavien fasste ich daher den im Nachhinein etwas naiven Entschluss, mal eben eine kognitive Verhaltenstherapie für Tinnituspatient*innen als App zu entwickeln. Dafür tat ich mich mit einem befreundeten Psychologen zusammen und gründete mit zwei ersten Investoren ein Start-up. Fünf Jahre später und um einige nicht nur gute Erfahrungen reicher, hat es dann dank der DiGA-Verordnung vom damaligen Gesundheitsminister Spahn geklappt. Die Tinnitus-App Kalmeda wurde als erste DiGA in Deutschland gelistet.
Tatsächlich ist die App aufgrund der weiten Verbreitung von Tinnitus und der fehlenden alternativen Therapiemöglichkeiten bis heute eine der meistverordneten DiGA.
Nicht alle Ärztinnen und Ärzte können eine App entwickeln. Welche Möglichkeiten gibt es noch, Innovation in die Versorgung zu bringen? Und können Netzwerke wie das HNOnet dabei unterstützen?
Innovationen entstehen in der Regel aus der Not heraus, und da gibt es bei den niedergelassenen Fachärzt*innen leider nach wie vor ein großes Potenzial. Es ergibt allerdings wenig Sinn, dass sich alle allein im Kämmerlein Gedanken machen. Hier kommt so etwas wie die Schwarmintelligenz ins Spiel: Es ist immer wieder schön zu beobachten, wie die Gespräche mit Kolleg*innen zu neuen Ideen und Lösungen führen. Genau als eine solche Plattform für konstruktive Dialoge ist das HNOnet auch gegründet worden.
Sie ziehen sich jetzt nach 15 Jahren aus dem HNOnet-Vorstand zurück, die DiGA haben Sie schon an einen langjährigen Partner aus der Pharmabranche verkauft und Ihre Praxis bekommt bald einen neuen Eigentümer. Wie schwer fällt es Ihnen, das Heft des Handelns nun an andere abzugeben?
Es ist jetzt der perfekte Zeitpunkt, um mal wieder Freiräume für etwas Neues zu schaffen. Ich mache das auch leichten Herzens. Nach 15 Jahren Vorstandstätigkeit im HNOnet war es jetzt wichtig, dass die nächste Generation allmählich das Ruder übernimmt. Mit Dr. Zander haben wir einen hervorragenden Nachfolger gefunden. Bezüglich der Firma war es so, dass die Anforderungen an das Management im Laufe der Zeit immer mehr gestiegen sind und es der logische nächste Schritt war, hier einen etablierten Player im Gesundheitssystem zu finden, der sich der Sache annimmt und für ein weiteres Wachstum sorgt.
Was kommt als Nächstes?
Erst einmal Luft holen und dann auf jeden Fall wieder loslegen. Ich habe noch ein paar Ideen und so ganz bin ich die alten Jobs ja auch nicht los. Ich werde ein paar Stunden in der Praxis weitermachen und für den Käufer der Firma regelmäßig als Berater tätig sein.