"Social Commerce wird richtig durch die Decke gehen"

Daniel Rehn

Worauf müssen sich Marken im Kommunikationsjahr 2022 einstellen? Noch mehr Audio? TikTok ohne Ende? Und ist Purpose noch ein treibendes Thema? Viele Fragen! Unser Digital Trend Scout und Senior Social Strategist Daniel Rehn liefert im Interview Antworten.

2021 neigt sich dem Ende entgegen und hat uns eine Vielzahl an Entwicklungen und Trends beschert. Was siehst Du persönlich als besonders bemerkenswert an?


Aus der eigenen Nutzung heraus hat mir der große Push für Branded Audio viel Freude bereitet. Von Marken produzierte und unterstützte Podcasts, Hörspiele und Co. haben einen enormen Sprung gemacht. Auch in der breiten Masse hat sich die Nutzung von Podcasts von 2019 zu 2021 im Grunde verdoppelt, sodass nun jede*r Vierte zumindest wöchentlich mal reinhört.[1] Dass in diesem Kontext auch alle Big Player von Spotify über Amazon bis YouTube nun ihre Angebote schärfen und die Professionalisierung von Podcasts anschieben – und das betrifft auch die Performance-Bewertung und das Advertising –, macht es noch richtig spannend.

Was fällt noch auf?


Haltung ist für Unternehmen wie Marken in diesem Jahr so gefragt gewesen wie nie zuvor und wird es noch eine ganze Weile bleiben. Sich 2020 und 2021 mit dem zum Buzzword verkommenen „Purpose“ eine eigene „Licence to operate“ zurechtzubasteln, war noch recht durchsichtig und wirkte vor allem nach innen. Aber nun rund um Themen wie Nachhaltigkeit, Diversität, Gleichstellung und Inklusion zu kommunizieren, das ist weitaus herausfordernder, da belastbarer. Jetzt müssen auf die Worte Taten folgen, die auch Außenstehende nachverfolgen können. Green- oder auch Rainbowwashing sind leicht aufzudecken. Die sensibilisierten User*innen haben kein Problem damit, das auch als Bullshit zu benennen, wenn da nichts kommt.

Was ist für 2022 zu erwarten?


Die meisten Entwicklungen, die wir bereits 2021 gesehen haben, werden uns weiter begleiten. Der Grund liegt in der anhaltenden Corona-Pandemie, die unser aller Nutzungsverhalten im Digitalen weiterhin beeinflusst. Ein anderer Grund ist, dass sich einige Trends nun etabliert haben bzw. sie noch dabei sind, das zu tun.

Audio und Haltung wurden ja schon genannt.


Genau. Aber auch TikTok wird nach seinem raketengleichen Aufstieg nicht mehr verschwinden. Es wird interessant zu sehen sein, wie auf TikTok und auch anderen Plattformen, wie Instagram und YouTube, die bessere bis nahtlose Integration von Creators und Influencern in Kampagnen und laufende Kommunikation klappt. Sie sind auf den neuen wie bekannten Spielfeldern oft besser aufgestellt und unterwegs als ihre Auftraggebenden, die das aber wiederum für sich zu nutzen wissen.

Für Creators und Influencer wie auch Brands werden die Social-Kanäle dabei mehr und mehr zu Verkaufsflächen. Erst haben sie ihre Storys im Werben um Aufmerksamkeit platziert. Jetzt folgt der Verkauf von Merch wie auch „echten“ Waren. Social Commerce wird 2022 richtig durch die Decke gehen. Alle großen Akteure sind dabei, sich schrittweise zum nächsten Online-Teleshopping zu entwickeln.

Wie genau meinst du das?


Es ist eine Entwicklung, die wir bei Instagram, YouTube und TikTok gerade im direkten Wettlauf sehen können. Im ersten Schritt wurden zum Beispiel bei Instagram nach dem Fokus auf Fotos on top Videoangebote integriert bzw. war Bewegtbild bei YouTube und TikTok ohnehin die native Ausgangslage. Dann kam die Einbindung von Shopping-Angeboten hinzu. Und jetzt wird das nach und nach zusammengeführt. So werden vor allem in Livestreams direkte Sales-Aktivitäten eingebaut, die sich als „Live Commerce“ ein wenig wie QVC auf Speed anfühlen.

In diesem Kontext sehen wir dann eine Verschmelzung von allem, wenn Creators in Livestreams von Brands auftauchen bzw. Brands in ihre Streams einbinden, um dann mit Angeboten zu locken. In Asien ist dieses Handling auch Corona-bedingt bereits gang und gäbe und sorgt für teils absurd hohe Verkaufszahlen,[2] die kein Online-Shop von sich aus hinbekommt. Auch wenn das Ganze einen Haken hat.

Und der wäre?


Wenn wir als User:innen permanent zum Konsumieren getrieben werden, dann nutzt sich der Effekt für Marken irgendwann auch ab. Wir können jeden Euro nur einmal ausgeben. Also suchen wir wie jetzt auch schon nach dem bestmöglichen Deal aus Qualität und Preis. Wie finden wir also, was wir so suchen? Entweder wird es uns in der größtmöglichen Advertising-Anstrengung von den Marken präsentiert und in den Feed gespült, was diese wiederum mehr Geld und Kreativität im Aufwand kostet – siehe Social bzw. Live Commerce wie gerade beschrieben –, oder aber wir als User klicken auf das für uns beste Angebot, das aber nicht mehr zwingend von unserer Lieblingsmarke kommen muss.

Wir haben 2021 bereits gesehen, wie sich Preissensibilität verschoben und Brand Loyalty stark reduziert hat. Die günstigere Konkurrenz ist ja oft nur einen Klick entfernt. Für Brands wird es also richtig schwierig, ihre Audience noch regelmäßig zu erreichen und abzuholen.

Und wie gelingt ihnen das dann? Noch mehr Ads schalten?


Das wäre die Brechstange, auch wenn die Plattformen ihre Advertising-Sets laufend erweitern und neue Angebote schaffen. Der elegantere Hebel, der aber nicht weniger aufwendig ist, wäre, sich den aufgebauten Audiences und Communitys zuzuwenden und diese regelmäßiger zu integrieren. User Generated Content als Basis von Kampagnenmotiven, der Einbezug von Feedback der tatsächlichen Fans, das konsequente Reinhorchen ins Publikum, was wirklich gewollt und gefordert wird … das wären allesamt Optionen, um sich durch tatsächliches, ernst gemeintes Engagement in den Feeds zu etablieren, statt Social Media nur als Display Advertising zu verstehen. Aber das Invest muss man wollen. Aber das gilt für jede der genannten Entwicklungen.



[1]ARD/ZDF-Onlinestudie 2021 – vgl. Tabelle 2, Audionutzung von 2018 bis 2021, mindestens 1x wöchentlich (Quelle: https://www.ard-zdf-onlinestudie.de/files/2021/Mai_Reichow.pdf).
[2]Quelle: https://www.cnbc.com/2021/11/16/chinese-livestreamers-can-rake-in-billions-of-dollars-in-hours-how-long-will-it-last.html.