„Telemedizin hat die Nische verlassen“ – was jetzt folgen muss

Jan Zeggel, Geschäftsführer von arztkonsultation, sieht Telemedizin an einem Wendepunkt: Die Anwendungen nehmen zu, das politische Interesse ebenfalls – und trotzdem bleibt der Fortschritt oft stecken. Im Interview spricht er über regulatorische Hürden, fehlende Anreize und die Frage, warum Telemedizin kein Add-on, sondern Grundpfeiler der Versorgung sein sollte.
Jan, du bist seit vier Jahren Teil der Geschäftsleitung von arztkonsultation und in dieser Rolle ein enger Begleiter der Telemedizin. Wo steht die Telemedizin heute?
Wir stehen noch immer ganz am Anfang. In Deutschland gibt es jährlich etwa eine Milliarde Ärzt*innen-Patient*innen-Kontakte in der ambulanten Versorgung, aber nur rund drei Millionen davon werden aktuell per Video durchgeführt. Die Nutzung steigt zwar kontinuierlich, ist aber immer noch ein Bruchteil dessen, was möglich wäre. Positiv ist, dass Telemedizin zunehmend auch in neuen Berufsgruppen ankommt: Neben Ärzt*innen setzen heute zum Beispiel auch Logopäd*innen, Pflegekräfte, Hebammen und Apotheken auf digitale Kommunikation. Auch in der Pflegeberatung oder im medizinischen Dienst werden telemedizinische Tools zunehmend genutzt. Das zeigt: Telemedizin hat die Nische verlassen und erreicht die Breite – auch wenn vieles noch auf Pilotprojekten basiert.
Wie haben sich die Rahmenbedingungen der Telemedizin entwickelt?
Formal ist einiges passiert. Das E-Rezept und die elektronische Patientenakte (ePA) unterstützen die Digitalisierung und können die Telemedizin weiter fördern. Die Medikationsliste in der ePA wirkt als Booster für die Telepharmazie. Aber bei genauerem Hinsehen gibt es viele Bremsen. Ein Beispiel ist die 30-Prozent-Grenze für Videosprechstunden. Praxen dürfen jetzt zwar mehr als 30 Prozent ihrer Patient*innen per Video behandeln, müssen dafür aber zwischen bekannten und unbekannten Patient*innen unterscheiden. Das wirkt effektiv als Einschränkung durch die Hintertür. Aus meiner Sicht haben wir hier eine willkürliche Regelung, die auch in die Behandlungsfreiheit der Ärzt*innen eingreift. Warum legen wir die Entscheidung, welche Patient*innen per Videosprechstunde behandelt werden, nicht vollumfänglich in die Verantwortung der Ärzt*innen?
Zumal vor der Durchführung einer Videosprechstunde zukünftig ein strukturiertes Ersteinschätzungsverfahren vorgeschrieben sein wird.
Genau. Im Grunde ist es ja auch sinnvoll, dass es im Voraus eine Ersteinschätzung gibt und geprüft wird, ob das Anliegen überhaupt telemedizinisch behandelt werden kann. Es ist nicht sinnvoll, das einfach pauschal festzulegen. Was ist beispielsweise mit einem Folgerezept? Da wäre ein solches Verfahren überflüssig. Ein Ersteinschätzungsverfahren macht also in vielen Fällen Sinn – was mich stört, ist, dass es einfach pauschal vorgeschrieben werden soll.
Welche Rolle spielt die Vergütung?
Die ist leider weiterhin ein Bremsklotz in der ärztlichen Versorgung. Es gibt zwar eine neue Abrechnungsziffer, aber dafür wird die Technikpauschale um die Hälfte gekürzt – mit der Begründung, die Preise seien gesunken. Ich sehe genau das Gegenteil. Die regulatorischen Anforderungen steigen ständig und die Preise werden dadurch auch eher steigen. Wir können als Anbieter die Kosten nicht allein schultern und müssen einen Teil der Kosten weitergeben.
Auch das Thema Abschläge wurde noch nicht behoben. Telemedizinische Leistungen werden in der ärztlichen Versorgung um 20 bis 30 Prozent geringer vergütet – obwohl die Leistung identisch ist. Für uns als Technologieanbieter ist das nur indirekt spürbar, aber für Leistungserbringer ist das ein echtes Hindernis. Für Apotheken, Pflegedienste oder therapeutische Berufe gibt es sogar noch gar keine Regelvergütung per Telemedizin. Diese Berufsgruppen können immens von der Telemedizin profitieren, werden aber systematisch benachteiligt.
Solche Hürden lassen sich letztlich nur politisch lösen. Wie bewertest du den politischen Ausblick der Telemedizin?
Der politische Wille ist da, das zeigt auch der Koalitionsvertrag. Aber die Umsetzung durch die Selbstverwaltung führte in der Vergangenheit oft zu Verschlimmbesserungen. Statt Klarheit und Vereinfachung gibt es etliche neue Detailregeln, die Telemedizin am Ende nicht fördern, sondern behindern. Dafür ist die Aufweichung der 30-Prozent-Grenze ein gutes Beispiel. Wir brauchen klare, einheitliche Regelungen, die die Verbreitung und Anwendung der Telemedizin nachhaltig fördern.
Leider ist die Telemedizin nicht weit oben auf der gesundheitspolitischen Agenda. Das halte ich für einen großen Fehler – vor allem, weil es in manchen Regionen kaum noch Zugang zu wohnortnaher Versorgung gibt. Wenn die medizinische Versorgung lückenhaft ist, hat das soziale und politische Konsequenzen. Das ist kein Randthema, sondern zentral für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land. Der Staat darf sich nicht aus der Fläche zurückziehen, aber aktuell spüren genau das viele Bürger*innen im Rahmen der medizinischen Versorgung.
Wie passt die lückenhafte Versorgung zu der ab Herbst 2025 vorgeschriebenen Regionalisierung der Telemedizin?
Es wird sehr schwer, diesen Anspruch aufrechtzuerhalten. In einigen Regionen haben wir schon jetzt die Ausgangssituation: eine teleärztliche Versorgung oder gar keine Versorgung. Und da sehen wir, dass die Nachfrage das Angebot deutlich übersteigt. Wenn wir jetzt auch noch auf räumliche Nähe pochen, verschärfen wir die Unterversorgung. Und das gilt auch für Ballungsgebiete – nicht nur für ländliche Regionen. Eine zentrale Steuerung kann bestenfalls ergänzen, aber nicht dominieren.
Wohin steuern Telemedizin-Anbieter unter diesen Umständen?
Wir werden 2025 und 2026 eine starke Konsolidierung in der Telemedizinbranche sehen, denn die regulatorischen Anforderungen werden weiter steigen. Allein die externen Kosten für die notwendigen Zertifizierungen haben sich bei uns in den letzten zwei Jahren verdreifacht. Dazu kommt ein hoher interner Aufwand. Viele Anbieter, gerade junge Unternehmen und Start-ups mit Fremdfinanzierung, werden das nicht stemmen können, da die Wachstumsgeschwindigkeit für Venture-Capital-finanzierte Geschäftsmodelle zu niedrig ist. Für uns als unabhängiges, familiengeführtes Unternehmen sind die Herausforderungen nicht ganz so groß. Da wir uns bereits nachhaltig im Markt positioniert haben, ist das eher eine strategische Chance.
Apropos Potenzial: Wo siehst du derzeit besonders unterschätzte Chancen?
Das Potenzial für Fachkräfte mit eingeschränkter Verfügbarkeit ist riesengroß. Viele Ärzt*innen oder Pflegekräfte können oder wollen nicht mehr Vollzeit im Praxis- oder Klinikbetrieb arbeiten. Mit Telemedizin lassen sich flexible Arbeitsmodelle schaffen, zum Beispiel über Telearbeitsplätze. So könnten wir Menschen im System halten, die wir heute noch verlieren. Wir brauchen diese Menschen für unsere Gesundheitsversorgung.
Was würdest du gerne noch in den Koalitionsvertrag schreiben?
Wir denken zu vertikal. Die Sektorentrennung zwischen stationärer und ambulanter Versorgung blockiert Innovation. Der Krankenhaus-Transformationsfonds geht in die richtige Richtung, berücksichtigt aber auch wieder vor allem die Situation in Kliniken. Wir müssen auch die ambulante Versorgung und vor allem die Pflege mitdenken – sonst laufen wir sehenden Auges in den Kollaps. Wir brauchen skalierbare, marktwirtschaftliche Lösungen, entwickelt in Co-Kreation zwischen Industrie und Leistungserbringenden – und dafür die richtigen Anreize. Telemedizin ist dabei kein Luxus oder nur eine Ergänzung. Vor dem Hintergrund unserer demografischen Entwicklung muss die Telemedizin ein Grundpfeiler und ein notwendiges Instrument sein, um eine flächendeckende, effiziente und menschennahe Versorgung sicherzustellen.