„Wir brauchen mehr Gestaltung – und weniger Angst vor Fehlern“

Zerklüftete Systemlandschaften, fehlende Standards und zu wenig Koordination: Für Kim Becker, Interoperabilitäts-Expertin bei Dedalus und Leiterin der bvitg-Arbeitsgruppe, sind das die zentralen Hürden für ein vernetztes Gesundheitswesen. Warum sie das politische Ziel eines flächendeckenden Datenaustauschs bis 2027 für nicht erreichbar hält – und was stattdessen passieren müsste –, erklärt sie im Interview.
Kim, du bist seit Jahren im digitalen Gesundheitswesen tätig. Warum reden wir immer noch so viel über Interoperabilität? Warum sind vernetzte Systeme nicht längst eine Selbstverständlichkeit?
Das liegt vor allem daran, dass wir es mit sehr heterogenen, oft alten Systemlandschaften zu tun haben. Viele der IT-Produkte, die heute in Krankenhäusern laufen, sind über Jahrzehnte hinweg gewachsen. Zudem sind diese Systeme und die verwendeten Datenstrukturen sehr komplex. Diese umzustellen oder mit den aktuellen Standards wie SNOMED CT oder HL7 FHIR interoperabel zu machen, ist eine umfangreiche Aufgabe, die auch Zeit in der Umsetzung benötigt.
Jedoch brauchen wir Interoperabilität dringend – nicht nur, um Daten einfacher zwischen Sektoren zu bewegen, sondern auch, um moderne Technologien wie künstliche Intelligenz sinnvoll einsetzen zu können. Für viele Anwendungsfälle wären strukturierte, interoperable Daten sehr wertvoll. Doch aktuell sprechen viele Systeme noch nicht dieselbe Sprache.
Du bist bei Dedalus für den Standard FHIR zuständig. Wie kannst du in dieser Rolle Interoperabilität vorantreiben?
FHIR ist ein internationaler Interoperabilitätsstandard, der den standardisierten Austausch medizinischer Informationen ermöglicht. Wir setzen ihn in vielen Ländern ein, stoßen dabei aber auch auf ganz unterschiedliche regulatorische und strukturelle Rahmenbedingungen. In Deutschland sehe ich viel Potenzial – besonders bei der elektronischen Patientenakte (ePA) und der damit verbundenen zukünftigen Nutzung strukturierter Gesundheitsdaten. FHIR kann eine Brücke bauen, um diese Daten systemübergreifend nutzbar zu machen. Die Aufgabe besteht darin, tragfähige Implementierungen zu schaffen. Dafür brauchen wir auch den Dialog mit Politik und Selbstverwaltung.
Seit 2024 leitest du die AG Interoperabilität und Standardisierung beim bvitg. Was bewegt ihr dort?
Die Arbeitsgruppe hat das Ziel, regulatorische Prozesse konstruktiv zu begleiten und die Perspektive der Industrie frühzeitig einzubringen. Denn häufig erleben wir, dass technische Spezifikationen oder gesetzliche Vorgaben entstehen, ohne dass sie praxisnah abgestimmt wurden. Bei der elektronischen Patientenakte etwa waren zunächst vier Wochen Testzeit vorgesehen – das ist schlicht unrealistisch. Wir brauchen längere Testphasen sowie echte Rückkopplung mit den Anwendern, Softwareherstellern und Modellregionen, in denen Innovation erprobt werden können. Wenn das gelingt, entsteht Vertrauen – sowohl bei den Herstellern als auch bei den Versorgern.
Der Koalitionsvertrag gibt ein klares Ziel vor: Bis 2027 soll ein verlustfreier, digitaler Datenaustausch auf Basis einheitlicher Standards möglich sein. Alle IT-Anbieter aus Gesundheit und Pflege sollen dazu verpflichtet sein. Ist das realistisch?
Wenn wir ganz ehrlich sind: Nein. Der Anspruch ist richtig, aber die Ressourcen fehlen. Es wären dafür immense Entwicklungsaufwände nötig, die aktuell kein Hersteller stemmen kann.
Darüber hinaus fehlen die notwendigen Rahmenbedingungen. Das Thema ist hochkomplex, und in vielen Bereichen existiert bislang keine einheitliche Terminologie. Häufig kommen Codes zum Einsatz, die primär dem Bestellwesen dienen – etwa die Pharmazentralnummer (PZN) – und nur eingeschränkte medizinische Aussagekraft besitzen. Um hier voranzukommen, benötigen wir ein gemeinsames Verständnis sowie standardisierte Datenkataloge. Aus heutiger Sicht erscheint es mir unrealistisch, diese Voraussetzungen bis 2027 zu schaffen.
Zusätzlich zum fehlenden Standard fehlt es auch an einer klaren Strategie. Stattdessen herrscht oft Aktionismus. Wir denken in Sektoren – stationär, ambulant, Pflege – und übersehen dabei, dass Gesundheitsdaten sektorübergreifend gedacht werden müssen. Was wir brauchen, sind realistische Zwischenziele, abgestimmte Testphasen und vor allem ein gemeinsames Verständnis davon, wo wir eigentlich hinwollen.
Wer sollte den Lead übernehmen? Kann der Krankenhaussektor ein Vorbild sein?
Wir brauchen keinen Vorreiter, sondern einen gemeinsam abgestimmten Plan. Dafür würde ich mir eine Interoperabilitätsstrategie wünschen. Am wichtigsten ist, dass wir endlich alle Beteiligten zusammenbringen: Hersteller, Versorger, Kassen, Politik. Das ist ein echtes Mammutprojekt, aber nur gemeinsam können wir definieren, wie Daten interoperabel gemacht werden.
Dabei ist übrigens eine spannende Frage, ob tatsächlich alle Daten interoperabel werden müssen. Ich bin für eine klare Priorisierung. Die Abrechnung braucht vielleicht nicht zwingend eine sektorübergreifende Vereinheitlichung, solange die medizinischen Daten kompatibel sind.
Ein anderer Aspekt ist: Fangen wir dort an, wo es noch keine Schnittstellen gibt, oder bringen wir erst alle bestehenden Schnittstellen auf den neuesten Stand? Alles auf einmal zu standardisieren, ist unmöglich.
Es gibt viele Organisationen, die Standards definieren. Du bist beispielsweise Vorstandsmitglied im HL7 Germany e.V., der den FHIR-Standard vorantreibt. Welche Rolle spielen solche Standardisierungsorganisationen?
Es braucht Koordination, denn aktuell entstehen Spezifikationen und Standards aus verschiedensten Quellen. KBV, gematik, Medizininformatik-Initiative und internationale Projekte – viele Ansätze sind nicht unbedingt hilfreich, denn oft gibt es widersprüchliche Anforderungen. Das macht es für Hersteller sehr schwer, Entwicklungen umzusetzen. Ein großer Vorteil der Standardisierungsorganisationen liegt darin, dass die entwickelten Profile und Leitfäden das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Abstimmungsprozesses unter einer definierten Governance-Struktur sind. Die Spezifikationen entstehen also nicht im Alleingang, sondern im Dialog mit der Community – jede und jeder kann sich einbringen und fachliche Expertise beisteuern.
Ein verpflichtender gesetzlicher Rahmen wäre in diesem Zusammenhang sinnvoll. Ebenso wäre eine zentrale Koordinierungsstelle wünschenswert, die strategische Leitplanken setzt, Prioritäten definiert und die Community aktiv einbindet. Erste Ansätze in diese Richtung gibt es bereits, etwa mit dem Kompetenzzentrum für Interoperabilität und dem Interop Council. Dennoch bestehen weiterhin zahlreiche parallele Entwicklungen. Die bestehenden Strukturen müssten ausgebaut und gestärkt werden, um die Interoperabilität wirksam und nachhaltig voranzubringen.
International wird gerade der European Health Data Space (EHDS) vorbereitet. Wie gelingt Interoperabilität über Landesgrenzen hinweg, wenn wir schon in Deutschland vor einer großen Herausforderung stehen?
Der EHDS ist ein wichtiges Vorhaben. Aber wir müssen anerkennen, dass internationale Interoperabilität enorm anspruchsvoll ist. Bei Dedalus setzen wir Features in verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich um – weil jedes Land eigene Regeln und Definitionen hat. Die Wiederverwendbarkeit leidet darunter massiv. Wenn wir in Europa wirklich grenzübergreifend Gesundheitsdaten nutzen wollen, brauchen wir vor allem ein einheitlicheres Regelwerk und Spezifikationen. Länderspezifische Unterschiede sollten sich lediglich auf organisatorische Aspekte beschränken – die medizinischen Inhalte, wie etwa die Definition von Allergien, müssen hingegen konsistent und vergleichbar sein. Aber es stimmt, die gleichen Probleme haben wir in Deutschland. Schon auf einfache Fragen wie "Was ist ein Patient?" gibt es in Deutschland keine eindeutige Antwort.
Jetzt plant die Politik ein Gesundheitsdatennutzungsgesetz, die Datenschutzbeauftragte soll auch für Datennutzung zuständig sein. Ist das der richtige Weg?
Ja – aber nur, wenn wir die Menschen mitnehmen. Technisch ist heute vieles möglich. Aber wenn wir nicht erklären, warum Daten genutzt werden sollen, wird es keine Akzeptanz und keinen Fortschritt geben. Das heißt, wir müssen stärker über die Chancen reden: bessere Versorgung, schnellere Diagnosen, Entlastung der Fachkräfte. Das Opt-out-Prinzip wie bei der ePA ist ein guter Hebel – aber es funktioniert nur, wenn die Vorteile klar kommuniziert werden.
Was wünschst du dir von der Politik?
Mut. Wir brauchen mehr Gestaltung und weniger Angst vor Fehlern. Wenn neue Spezifikationen immer und immer wieder überarbeitet werden, ohne klare Timelines, macht das eine Planung unmöglich. Wir brauchen Verlässlichkeit – auch wenn das heißt, Entscheidungen zu treffen, bevor alles perfekt ist. Und wir müssen endlich anerkennen, dass Interoperabilität ein strategisches Großprojekt ist, das nur mit Zeit, Ressourcen und klarer Governance gelingen kann.
Interoperabilität ist extrem kompliziert. Jeder Fortschritt muss hart erarbeitet werden. Was treibt dich persönlich dabei an?
Interoperabilität ist für mich mehr als ein Technikthema – es geht um echte Veränderung in der Versorgung. Ich sehe, was möglich wäre, wenn wir es schaffen, Daten intelligent zu vernetzen. Natürlich sehe ich auch, wie zäh die Prozesse sind. Trotzdem: Ich glaube an die Vision. Wenn wir uns endlich strategisch aufstellen und alle Akteure an einen Tisch holen, kann Deutschland nicht nur aufholen, sondern im Bereich Gesundheitsdaten eine Vorreiterrolle einnehmen.