„Wir wollen nicht warten, bis sich das System ändert – wir wollen es selbst mitgestalten“

Linus Drop 3072x1620

Der Koalitionsvertrag kündigt große Veränderungen in der ambulanten Versorgung an: Primärarztsystem, neue Rollenverteilungen, finanzielle Anreize. Linus Drop, CEO von LillianCare, ordnet die Pläne politisch und praktisch ein – und erklärt, warum die Hausarztpraxis zur intelligenten Drehscheibe werden muss, wenn das System nicht am eigenen Anspruch scheitern soll.

Linus, Du verfolgst regulatorische Entwicklungen im Gesundheitswesen sehr genau. Wie war dein erster Eindruck, als du den Koalitionsvertrag gelesen hast?

Überraschend positiv. Es ist gut zu sehen, dass die Politik verstanden hat, wie ernst die Lage in der ambulanten Versorgung wirklich ist – vor allem in ländlichen Regionen, in denen schlicht zu wenige Ärzt*innen verfügbar sind. Das wird im Koalitionsvertrag klar benannt. Darüber hinaus finde ich es ermutigend, dass jetzt konkrete Lösungsansätze formuliert werden, mit denen wir besser mit den vorhandenen, knappen Ressourcen umgehen können. Nur so lässt sich auch langfristig eine gute Versorgungsqualität sicherstellen. Natürlich bleibt vieles noch abstrakt – aber man spürt den politischen Willen, diesen Bereich jetzt systematisch anzugehen. Am Ende wird alles von der Umsetzung abhängen.

Eine der größten Reformen ist der Wechsel zum Primärarztsystem. Das heißt, Patient*innen werden im Normalfall zuerst eine hausärztliche Praxis besuchen müssen, bevor es einen Termin bei einem Spezialisten oder einer Spezialistin gibt. Was bedeutet das für Euch als Betreiber von Hausarztpraxen?

Das ist ein Paradigmenwechsel. Wenn der Hausarzt wirklich Gatekeeper wird, ändert das grundlegend, wie wir ambulante Versorgung organisieren. In Ländern wie den Niederlanden funktioniert das seit Jahren: Patienten wählen eine feste Anlaufstelle– und die Versorgung wird darüber koordiniert. Das führt zu weniger ungesteuerten Facharztkontakten und entlastet das System insgesamt. Wir sehen da großes Potenzial – aber die Prozesse in Hausarztpraxen müssen sich ändern, damit das eine Erfolgsgeschichte wird. Denn wenn wir nicht aufpassen, wird der Hausarzt selbst zum Nadelöhr. Deshalb investieren wir stark in digitale Tools, neue Rollen für nichtärztliche Berufsgruppen und stellen unsere Prozesse laufend infrage. Wir wollen nicht warten, bis sich das System ändert – wir wollen es selbst mitgestalten.

Der Koalitionsvertrag kommt Euch dabei entgegen. In unterversorgten Gebieten soll es Zuschläge zum Honorar geben.

Genau. Wenn die ärztliche Versorgung in einer Region zu schlecht ist, soll es mehr Geld für die gleiche Leistung geben. Das kommt uns entgegen, weil unsere Praxen ausschließlich in solchen Regionen liegen. Aber das finde ich auch fair. In den Städten ist die Tätigkeit für Ärzt*innen schlicht attraktiver. Wenn wir die Versorgung steuern wollen, müssen wir solche Anreize setzen.

Ein auf den ersten Blick unscheinbarer Satz im Koalitionsvertrag lautet: "Wir stärken die Kompetenzen der Gesundheitsberufe in der Praxis." Ihr macht damit schon gute Erfahrungen. Was wünschst Du Dir hier konkret?

Dieser Satz kann vieles bedeuten. Entscheidend ist, was politisch tatsächlich draus gemacht wird. Wir brauchen dringend multiprofessionelle Teams in der Versorgung und insofern eine Gesetzgebung, die das umfassend ermöglicht.  Ohne Physician Assistants (PA), spezialisierte Nurses und medizinische Fachangestellte (MFA) mit erweiterten Aufgaben ist eine flächendeckende Versorgung künftig nicht mehr leistbar. In Skandinavien wird das längst erfolgreich umgesetzt. Dort arbeitet der Arzt stärker in einer Supervisions- und Qualitätsmanagementrolle. Ich glaube, dahin müssen wir auch. Nach meinem Verständnis muss die Verantwortung ganz klar in ärztlicher Hand bleiben. Die Versorgung können wir aber anders gestalten – nämlich gemeinsam, in gut orchestrierten Teams.

Eines der wenigen Themen, für das im Koalitionsvertrag schon ein konkretes Gesetz angekündigt wird, ist das iMVZ-Regulierungsgesetz, das investorenbetriebene MVZ (iMVZ) erschweren soll. Wie blickst Du darauf?

Auf den ersten Blick ist das ein großes Thema für uns, weil wir mehrere eigene MVZs betreiben. Langfristig setzen wir aber auf ein Partnerpraxen-Modell. Wir sind dann nicht mehr selbst Betreiber, sondern stellen selbständigen Ärzten nur unsere Abläufe, Technik und Know-how zur Verfügung. Insofern betrifft es uns perspektivisch weniger.
Grundsätzlich finde ich es nicht schlimm, wenn Investoren Strukturen in der Gesundheitsversorgung finanzieren – solange die medizinische Qualität stimmt. Mein Wunsch wäre: Lasst uns weniger über Eigentumsfragen reden und stattdessen mehr über Outcomes. Ob eine Praxis richtig gute Arbeit leistet, sollte im Zentrum der Diskussion stehen und nicht, wer Eigentümer ist. Ein anderer Punkt im geplanten iMVZ-Regulierungsgesetz ist das Thema Transparenz. Dass MVZ besser über ihre Eigentümerstruktur informieren sollen, ist doch keine schlechte Idee. 

Ein weiterer Punkt: "Nicht bedarfsgerechte Arztkontakte" sollen verhindert werden. Was verstehst Du darunter?

Das kann eine logische Folge des Primärarztsystems sein. Wenn ich mich als Patient für eine Hausarztpraxis entscheide, bin ich dort gebunden. Das heißt, ich kann nicht einfach für die gleiche Sache zusätzlich noch in eine andere Praxis gehen. In so einem Modell könnten auch Pauschalen über längere Zeiträume greifen, etwa über ein Quartal oder sogar ein Jahr. Aber: Es darf in der Praxis dann keinen Anreiz geben, Patient*innen je Zeitraum möglichst selten zu sehen. Es geht um eine sinnvolle Balance zwischen Steuerung und guter Versorgung. In meinen Augen könnten verbindliche Qualitätskriterien helfen.

Gibt es eine Reform, die Du im Koalitionsvertrag vermisst?

Viele Ansätze gehen in die richtige Richtung. Was ich mir zusätzlich wünsche, ist eine Haltung, die weniger auf zentrale Steuerung setzt – und mehr darauf vertraut, dass gute Lösungen oft dort entstehen, wo Menschen mit Engagement und Kreativität vor Ort Verantwortung übernehmen. Ich kenne so viele richtig gute Ideen, die leider von der Trägheit des Systems ausgebremst werden. Das sollte nicht passieren. Wir brauchen mehr Beweglichkeit. Regulierung ist wichtig, aber sie sollte wirken wie Verkehrsregeln: Orientierung geben, ohne jede Bewegung zu bremsen. Dann hat unser Gesundheitswesen eine echte Chance, die großen Herausforderungen zu bewältigen.