Digitalisierung als Wegbereiter für mehr Menschlichkeit in der Medizin

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Nach einer Laufbahn in der HNO-Medizin wurde Prof. Jochen Werner 2011 Ärztlicher Geschäftsführer des ersten privaten Universitätsklinikums in Deutschland. Heute ist Prof. Jochen Werner nicht nur Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen, sondern auch Impulsgeber der Healthcare-Branche – als Autor, Speaker und treibender Kopf im Digital-Health-Netzwerk 10xD. Simeon Atkinson befragt ihn zum Wandel, den die Krankenhauslandschaft dringend benötigt.

Herr Professor Werner, Sie zählen zu den bekanntesten Experten der deutschen Kliniklandschaft – auch weil Sie zu vielen Themen eine starke Meinung haben. Was bemängeln Sie besonders und worin sehen Sie Lösungsmöglichkeiten?


Eigentlich läuft es immer auf eines hinaus: Mich hat schon früh gestört, oder sagen wir besser, frustriert, dass unser Gesundheitssystem an vielen Stellen ineffizient und träge ist, was Veränderungen und neue Entwicklungen anbelangt. Dadurch ist es längst nicht so gut, wie es sein könnte.

Ein zentraler Schlüssel zu mehr Effizienz ist aus meiner Sicht die Digitalisierung. Auf der Mikroebene meine ich damit digitale Lösungen zur Beschleunigung und Verbesserung von Prozessen zur Entlastung von Mitarbeitenden. Dies kommt unseren Patient*innen unmittelbar zugute. Auf der Makroebene geht es um eine digital vernetzte Infrastruktur zum Austausch von Daten. Die Digitalisierung ist ein wichtiges Mittel zum Zweck, um die Medizin wieder menschlicher und somit zukunftsfähig zu machen.

Wie setzen Sie das momentan am Universitätsklinikum Essen um?


Seit 2015 entwickeln wir uns zum „Smart Hospital“. In unserem Verständnis ist ein smartes Krankenhaus eines, das konsequent den Menschen in den Mittelpunkt des Handelns und damit auch der eigenen Digitalisierungsstrategie stellt. Jede Digitalisierungsmaßnahme wird daran gemessen, was sie am Ende den Menschen bringt und welchen Nutzen sie am Ende für Patient*innen hat. Das ist nicht immer ein unmittelbarer Nutzen, etwa durch eine neue Behandlungsmethode. Aber durch die Digitalisierung von Prozessen sollen Mitarbeitende von administrativen Aufgaben entlastet und Ärzt*innen mittels KI bei Entscheidungen unterstützt werden, um eben wieder mehr Zeit für den direkten Patientenkontakt zu haben. An unserem Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin (IKIM), das international sichtbar ist, verfolgen wir das Anliegen, zielgerichtet Lösungen zu entwickeln, die möglichst schnell in der Patient*innenversorgung ankommen sollen.

Zudem sollte, wer den Menschen konsequent in den Mittelpunkt seines Handelns stellt, angesichts der aktuellen Klimasituation zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass es längst an der Zeit ist, nachhaltiger zu werden. Das „Green Hospital“ ist deshalb ein ebenso wichtiges Ziel. Diese Weiterentwicklung ist bei uns bereits gestartet.

Welches Thema oder welche Herausforderung wird oft unterschätzt, wenn von außen aufs Krankenhaus geschaut wird?


Die Komplexität der Prozesse und der administrative Aufwand, die sich, so ineffizient sie auch sein mögen, nun schon über Jahrzehnte so eingespielt haben. Von außen oder als Patient*in sieht man nur das, was einen selbst betrifft, und versteht deshalb nicht immer, warum Dinge manchmal so lange dauern, kompliziert und aufwendig sind.

Ein Krankenhaus, insbesondere eine Universitätsmedizin, ist ein hochkomplexer, mitunter sogar fragiler Organismus. Da geht es nicht nur um die eigentliche Behandlung am Ende der Dienstleistungskette. Es geht um den Einkauf, den Transportdienst, die Labors und Institute, die Bildgebung, die Küche, die Verwaltung und vieles mehr. Unsere Aufgabe im Rahmen des „Smart“ und des „Human Hospital“ ist es, diese Mechanik aus Sicht der Patient*innen und der Beschäftigten zu sehen und nicht mit den Augen der eingeübten Funktionalität.

Sicher ist es ist nachvollziehbar, dass dies bei 11.000 Beschäftigten, rund 300.000 Patient*innen im Jahr sowie mehreren Standorten und Tochtergesellschaften ein Prozess ist, der nicht über Nacht gelingt.

Das Thema Klinikfinanzierung kennen Sie aus verschiedenen Blickwinkeln, weil Sie sowohl öffentliche als auch private Großkrankenhäuser geleitet haben. Wie viel Ökonomie braucht das Klinikum, wie viel verträgt es?


Das ist ein sehr komplexes Thema. Aber sagen wir es mal so: Es braucht wieder ein ausgewogenes Verhältnis. Und das ist aus meiner Sicht in den vergangenen Jahrzehnten verloren gegangen. Es kann nicht sein, dass in Kliniken nur noch über Fallzahlen gesprochen wird und darüber, welche Operation den höchsten Ertrag bringt. Am Ende muss es immer um das Patientenwohl gehen und Qualität muss sich wieder auszahlen. Das heißt, dass manchmal eben auch Investitionen erforderlich sind, deren Return on Investment sich nicht immer anhand klassischer Kriterien buchhalterisch messen lässt.

Digitalisierung kostet, aber sie schafft eben auch Lösungen für die Probleme im Gesundheitswesen. Deshalb ist Digitalisierung aus meiner Sicht unabdingbar, um den Pflege- und Personalnotstand und den Umbau hin zu mehr Zentralisierung ohne Einbußen in der gesundheitlichen Versorgung zu managen. Kurzum: Wir brauchen definitiv eine wirtschaftliche Komponente in unserer Arbeit, das sind wir auch den Beitragszahlenden schuldig. Vor allem aber geht es für mich dabei um mehr Effizienz und weniger um mehr Ertrag.

Was meinen Sie, können das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG), das Krankenhaustransparenzgesetz und die geplante Krankenhausreform hier einen wertvollen Beitrag leisten?


Ja, denn sie zielen eben genau in die richtige Richtung. Es geht darum, die Qualität der Versorgung wieder in den Vordergrund zu rücken und zu honorieren und – ganz wichtig – diese Qualität dann eben auch sichtbar zu machen für Patient*innen.

Die große Herausforderung wird jetzt sein, diese wirklich tiefgreifenden Reformen auch tatsächlich umzusetzen. Ich muss sagen, nach vielen Jahren der Stagnation und der Apathie bin ich aktuell optimistisch, dass es positive strukturelle Veränderungen im Gesundheitssystem gibt.

Fortschritte im Klinikum brauchen nicht nur Geld und Technologie, sondern auch Menschen, die sie umsetzen. Im Moment stellen Sie Ihr drittes Buch fertig, das den Titel „Human Hospital“ trägt. Was ist Ihre Kernaussage?


Wir fordern eine radikale Kehrtwende und eine Rückkehr zu mehr Menschlichkeit im Krankenhaus. Menschen zu helfen und Menschen zu dienen, das ist die originäre Aufgabe des Gesundheitssystems und seine gesellschaftliche Verantwortung. „Human Hospital“ bedeutet deshalb für uns an der Universitätsmedizin Essen, dass wir für eine spürbare Entlastung der Beschäftigten sorgen wollen, die Patient*innen viel stärker als Menschen und Kund*innen betrachten und dabei Wirtschaftlichkeit sowie einen ausgeprägten Klima- und Ressourcenschutz in die Balance bringen. Dies funktioniert in vollem Umfang nicht als Insel, sondern nur als digital gestützte Datenplattform, als Schnittstelle zwischen allen anderen Akteuren des Gesundheitssystems.

Wenn Sie jetzt plötzlich Gesundheitsminister wären, wäre das dann auch Ihr Fokus? Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?


Ich denke, Gesundheitsminister war in den letzten Legislaturperioden der undankbarste Job im Kabinett, weil man sich auch und gerade bei guten Ideen und Lösungen mit einer Vielzahl von Blockierenden und Interessengruppen auseinandersetzen musste. Aber wir brauchen tiefgreifende, konkrete Veränderungen, um unser Gesundheitssystem auch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels zukunftsfest zu machen.

Für das Krankenhaus gilt: Kliniken müssen zusammengelegt und große Zentren für komplexe Behandlungen geschaffen werden. Digitalisierung ist hier der entscheidende Gamechanger. Ohne eine digitale Infrastruktur über die Grenzen des einzelnen Krankenhauses, der Arztpraxis und sonstiger Leistungserbringer hinweg wird es uns nicht gelingen, die Qualität der Gesundheitsversorgung in Deutschland aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt das unausweichliche Bekenntnis zur Eigenverantwortung der Patient*innen mit den erforderlichen Konsequenzen.