Pflegebranche bietet Entwicklungspotential
Ein Praktikum brachte Jasper Böckel in die Pflege. Nach Jahren in der Unternehmensberatung. Mit erfahrenem Blick sah er Punkte, die er verbessern würde. Statt sie, wie gewohnt, „nur“ zu empfehlen, entwickelte er „myo“, eine App, die Einrichtungen in der Altenpflege mit Angehörigen und Dienstleistern vernetzt. Was genau ihn dazu bewogen hat, erzählt er im Interview.
Jasper, eines Tages hast du deinen Job als Unternehmensberater an den Nagel gehängt und einfach ein unbezahltes Pflegepraktikum begonnen. Wie lief das ab? Was für eine Zeit war das für dich?
Nach vielen Jahren in der Beratung kam ich an den Punkt, an dem ich etwas Sinnstiftendes mit meiner Zeit anstellen wollte. So bin ich eines Donnerstagnachmittags in eine stationäre Pflegeeinrichtung in Berlin marschiert, um zu fragen, ob es möglich wäre, dort ein Praktikum zu machen. Die Reaktion begeisterte mich direkt: „Na klar, helfende Hände können wir immer gut gebrauchen. Montag, 06:30 Uhr zur Frühschicht kannst du anfangen.“
Sehr schnell schlugen zwei Herzen in meiner Brust. Zum einen fand ich, dass der Pflege gesellschaftlich unheimlich unrecht getan wird. Glaubt man den Medien, erwartet man eigentlich nur Horrorgeschichten und unprofessionelle Arbeit. Ich durfte eine ganz andere Seite der Pflege kennenlernen, die mit unglaublich aufopferungsvollen, professionellen und liebevollen Menschen gespickt war, die Pflegebedürftigen einen würdevollen letzten Schritt in ihrem Leben ermöglichten.
Im Gegensatz zu der extremen Professionalität standen für mich aber die vielen analogen Prozesse in den Pflegeeinrichtungen. Es war ganz normal, dass ich mit Ende 20 noch lernen musste, wie das Faxgerät funktioniert, viele Zettel ausgefüllt habe und durchgängig bei fokussierten Arbeitsabläufen unterbrochen wurde, weil sich ad hoc Aufgaben oder Gespräche aufgetan haben.
In einer Welt, in der die Zeit von Mitarbeitenden in der Pflege ein extrem rares Gut ist, war ich schockiert, wie leichtsinnig noch mit dieser Zeit umgegangen wird. Und mir war klar, dass im Hinblick auf den demografischen Wandel und die Herausforderung, die diese Branche noch vor sich hat, diese Arbeitsweise langfristig keinen Bestand haben kann.
Wie unterscheidet sich der Alltag in der Pflege von der Außenwahrnehmung der Branche?
Viele denken, man kommt ins Pflegeheim, um dort zu sterben. In Wirklichkeit ist es aber so, dass man dorthin kommt, um noch mal zu leben, und dort die bestmöglichen Voraussetzungen findet, um diesen letzten Schritt würdevoll zu gehen. Pflege ist eben so viel mehr als „satt und sauber“. Leute vergessen, dass in den Einrichtungen Aktivitäten geboten werden, soziale Kontakte geknüpft werden, ein unglaubliches Gefühl des Miteinanders herrscht und eben Dinge wie sich für den Tag hübsch zu machen, den Friseur aufzusuchen, sich das Zimmer zu schmücken genauso wichtig sind, wie es das für jüngere Menschen im Alltag ist. Der Mensch wird kein anderer, nur weil er ins Pflegeheim kommt. Bedürfnisse, Wünsche, Träume und Charaktere bleiben die gleichen. Nur die Umgebung ändert sich und jedem von uns sollte klar sein, dass auch wir eines Tages in diese Situation kommen könnten und auch wir dort ein lebenswertes Leben vorfinden wollen.
Und so bist du auf die Idee von myo gekommen? Wie wurde daraus ein Start-up?
Die Idee ist wohl am ehesten an einem Erlebnis festzumachen: Während meines Praktikums sind wir mit Bewohnern und ein paar Kollegen in ein Museum in Berlin gefahren. Im Anschluss waren wir noch im Museumscafé und haben es dann gerade noch pünktlich in die Einrichtung zum Mittagessen geschafft. Kurz nachdem ich einer Dame dort das Mittagessen gereicht hatte, kam wie so häufig ihre Tochter zu Besuch, gesellte sich zu ihrer Mutter und fragte: „Na, Mutti, wie geht es dir denn? Was hast du heute denn schon alles so gemacht?“ Die Mutter schaute sie an und erwiderte, sie habe heute noch gar nichts gemacht und gegessen auch noch nicht.
Ich nahm diese Situation wahr, da ich gerade dabei war, den Tisch abzudecken. Also setzte ich mich dazu und klärte die Tochter darüber auf, dass ihre Mutter heute Morgen mit uns einen unglaublich schönen Ausflug erlebt hatte und während dieses Ausflugs richtig aufgeblüht war. Leichter gesagt als getan. Ich war sehr schnell in einer rechtfertigenden Haltung, die Angehörige hatte mir nicht geglaubt und ein Foto, um ihr diesen Ausflug zu beweisen, hatte ich erst recht nicht. Was mich dabei am meisten schockiert hat, war die Reaktion meiner Kollegen: Als ich am Tag danach von meinem Erlebnis berichtet habe, wurde ich fast ausgelacht. Es wurde mit den Schultern gezuckt – so sei das hier immer.
Mir wurde klar: Die Angehörigen sehen nur dieses kleine Fenster, das sich ihnen offenbart, wenn sie in der Einrichtung sind. Und das ist vielleicht nur manchmal am Sonntag zwischen 13 und 14 Uhr. In einer Welt, wo wir quasi alles über jeden wissen, finde ich es nur richtig, dass wir wissen, wie es Opa, Oma, Vater oder Mutter in der Einrichtung geht. Dafür wollte ich eine Lösung schaffen.
Als ihr mit eurem Angebot an den Start gegangen seid, war es Anfang 2020 – also unmittelbar vor der Pandemie. Wie bist du mit dieser unternehmerischen Prüfung klargekommen?
Zum Start von Corona an den Markt zu gehen, war natürlich eine riesige Herausforderung. Eigentlich hatten wir geplant, Einrichtungen aufzusuchen, um ihnen das Produkt in die Hand zu drücken und es sie erleben zu lassen.
Plötzlich waren die Einrichtungen von der Außenwelt abgeschlossen, und wir waren darauf angewiesen, unser Produkt digital zu verkaufen. Dies war an vielen Stellen gar nicht möglich, da die Grundvoraussetzungen dafür nicht geschaffen waren: Es gab kein WLAN, keine Möglichkeit für Videocalls und falls doch, häufig keine funktionierende Kamera oder keinen vernünftigen Ton. Gleichzeitig haben wir an anderer Stelle gesehen, dass die Kunden, die unser Produkt schon eingeführt hatten, unglaublich davon profitierten, weil die Isolation der Bewohner somit viel weniger spürbar war.
Wir haben uns damals dazu entschlossen, unseren Beitrag zu leisten und das Produkt umsonst an Kunden herauszugeben, um das Maximum an Abhilfe schaffen zu können.
Heute liest sich eure Kundenliste wie ein Who’s who der Pflegebranche. Diakonie, DRK, Johanniter, Caritas usw. Was willst du mit myo noch erreichen?
Wir sind stolz, schon solche großen Namen unsere Kunden nennen zu dürfen. Trotzdem haben wir noch sehr viel vor uns. Zum einen wollen wir es schaffen, dass alle unsere Kunden das Produkt flächendeckend nutzen und somit ein echter Standard innerhalb der Träger geschaffen wird. Zum anderen wollen wir unser Produktportfolio erweitern, um unsere Kunden auch bei anderen Herausforderungen unterstützen zu können. So ist aus der anfänglichen Angehörigenkommunikation mittlerweile ein Netzwerk geworden, das Mitarbeitenden erlaubt, die Essensbestellung der Bewohner abzuwickeln, mit der Apotheke in Kontakt zu treten oder dem externen Wäschedienstleister digital eine Reklamation mitzuteilen.
Wir wollen, dass Digitalisierung in der Altenpflege wirklich zum Alltag gehört und überall dort unterstützt, wo es für die Mitarbeitenden Entlastung schafft.
Dabei hilft sicher die Series-A-Finanzierung, die ihr gerade bekannt geben konntet. Glückwunsch dazu! Erst mal ist das ein super Signal für andere Start-ups und Investoren – aber was heißt das jetzt für dich und für myo?
Erst mal vielen Dank für die Glückwünsche! Wir sind wirklich stolz darauf, mit TVM einen so namhaften Partner gefunden zu haben. Für uns bedeutet das, dass wir unseren Kunden einen noch besseren Service liefern können. Das neue Kapital erlaubt uns, unseren Kundenservice auszubauen und die Einrichtungen genau dort zu unterstützen, wo sie stehen. Da gibt es manche, die haben noch nicht mal WLAN oder haben noch nie ein digitales Produkt genutzt. Wir nehmen sie von Tag eins an die Hand, um sicherzustellen, dass jeder Mitarbeiter auf die Reise mitgenommen wird und versteht, was es für die eigene Arbeit und Zukunft bedeuten kann, Digitalisierung zuzulassen. Zum anderen erlaubt es uns natürlich auch, unser Produkt immer weiterzuentwickeln, um die Bedürfnisse unserer Kunden auch in Zukunft bestmöglich bedienen zu können.
Die Pflege – auch wenn das manche nicht denken – ist in starkem Wandel und so verändern sich auch die Bedürfnisse des Marktes. Wir wollen sicherstellen, dass wir mit der Zeit gehen und neue Technologien in der Pflege zum Einsatz kommen können.
Nicht allen Start-ups gelingt es im Moment, an frisches Kapital zu kommen. Was bedeutet das für Innovatoren in der Pflege?
Eine große Herausforderung besteht natürlich darin, dass aktuell nicht nur den Start-ups das Geld ausgeht, sondern die hohe Inflation und generell gestiegenen Kosten in der Pflege auch dazu führen, dass aufseiten des Marktes Geld gespart wird. Leider passiert das viel zu häufig in Projekten rund um das Thema Digitalisierung. Dieser zweiseitige Druck hat die Auswirkung, dass den Start-ups immer mehr die Luft ausgeht. Das Gesundheitswesen im Generellen und die Pflege im Besonderen sind ein Markt, in dem Durchhaltevermögen gefragt ist. Veränderungen passieren häufig langsamer als gewünscht und so ist es enorm wichtig, auf die Kapitaleffizienz zu achten.