„Chefin war ich noch nie wirklich“

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Babette Kemper ist Co-Gründerin und Geschäftsführerin von Achtung! Mary. Die Agentur beschäftigt mehr als 50 Mitarbeitende in Hamburg und Düsseldorf und ist für Unternehmen und Marken wie cosnova, thyssenkrupp und Carglass tätig. Im Gespräch mit Achtung! CEO Mirko Kaminski berichtet sie, welche Veränderungen in der Kommunikation sie derzeit am meisten beschäftigen und was ihr dabei Sorge bereitet. Und sie beschreibt, was ihr mit Blick auf Leadership wichtig ist.

Babette, wenn wir über alle aktuellen Veränderungen innerhalb von Kommunikation und PR ausgiebig sprechen wollten, bräuchten wir wohl Stunden oder gar Tage. Daher: Welche Veränderungen bewegen dich derzeit am meisten?


Auch wenn dies zwei Buzzwords sind, sind für mich „künstliche Intelligenz“ und „Leadership“ die beiden großen Veränderungsbereiche. Gerade vor dem Hintergrund, stetig einen Beitrag für eine möglichst diverse, gleichgestellte und inklusive Gesellschaft leisten zu wollen. Mich treiben daher spezifische Aspekte um, die neue Herausforderungen darstellen.

Woran denkst du da beispielsweise?


Also, im Kontext der großen KI-Welle kommen mir immer öfter die Gedanken von Roger Willemsen in den Sinn, die er in seinem letzten Vortrag im Sommer 2015 so formulierte: „Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“

Diese Sätze werden meiner Meinung nach immer aktueller. Denken wir an diese unglaubliche Fülle an Daten, die täglich produziert werden. Nur zu einem Bruchteil stellen sie nutzbare Daten dar. Sie führen nicht zu objektivem Wissen oder objektiven Erkenntnissen. Das ist doch echt verrückt: Die Menge der Daten explodiert, aber der Erkenntnisgewinn bleibt dennoch beschränkt.

Was beschäftigt dich in dem Zusammenhang noch?


Eine dringliche Grundsatzfrage treibt uns wohl derzeit alle um: Wie lerne ich meine Kolleg*innen an, KI-Tools gewinnbringend einzusetzen? Als Arbeitgeberin fühle ich mich schließlich verpflichtet, meine Teams und Mitarbeitenden zu befähigen. Und dabei denke ich auch an deren Zukunft: Wer in drei Jahren in einem Bewerbungsgespräch sagt, keine KI-Tools zu nutzen, wird auf dem Arbeitsmarkt ein riesiges Problem haben.

Dann raus damit: Wie ermunterst du zum Ausprobieren und Nutzen?


Das Anlernen ist primär eine handwerkliche Herausforderung. Unsere IT ermöglicht sichere Zugänge und dann befähigen wir unsere Mitarbeitenden auf verschiedene Arten: Impulsvorträge, Spezialist*innen, die wöchentliche Formate aufsetzen, Kolleg*innen, die durch Ausprobieren autodidaktisch lernen, durch Foren oder Communitys die Potenziale verschiedenster Tools kennenlernen oder Pilotprojekte bei Kund*innen aufsetzen und durchspielen. Ich sehe auf der einen Seite eine hohe Motivation, auf der anderen Seite aber auch Vermeidungsverhalten.

Diese handwerkliche Anwendung ist aber nicht die eigentliche Veränderung, die ich sehe. Für mich besteht die ganz große Veränderung darin, dass wir lernen müssen, mit vorhandenen Daten und scheinbar unbegrenztem Wissen verantwortlich umzugehen. Künstliche Intelligenz fällt nicht vom Himmel, sondern wird von Menschen entwickelt und gespeist. Und dies erfolgt derzeit durch ganz spezifische Peers. Maschinelles Lernen zum Beispiel basiert ja auf Daten – also auf vorhandenen Daten, die entweder kuratiert, gesammelt oder aus dem Internet herausgefiltert werden. Und diese Daten sind kein objektives Wissen. Schon gar nicht umfassen sie vielfältige Perspektiven – im Sinne von Diversity.

Was meinst du damit genau?


Ein Beispiel: Es gibt kein Land auf der Welt, das die hundertprozentige Gleichstellung der Geschlechter erreicht hätte. Und das spiegelt sich nicht nur im Internet, sondern auch beim maschinellen Lernen. Wir sprechen über Algorithmen, die zu 90 % von jungen Männern geschrieben wurden. Sie stammen größtenteils aus Nordamerika und Westeuropa. Natürlich stammen sie auch von chinesischen und indischen Männern, die aber in vergleichbaren Umgebungen ausgebildet und aufgezogen wurden. Zudem beträgt der Anteil der Frauen in Technologieunternehmen nur 22 %. Dabei muss man dann noch bedenken, dass 22 % nicht unbedingt Techniker*innen sind, sondern zum Beispiel als Administratorinnen, in der Personalabteilung oder in anderen Fachbereichen arbeiten. Der Prozentsatz von Frauen in den Entwicklerteams, die Algorithmen schreiben, liegt im einstelligen Bereich.

Und das heißt für deine und unsere Arbeit?


Wenn wir Daten, Texte und Kreation via Algorithmus-Logik erstellen, werden wir im Augenblick noch Produkte generieren, die unbedingt zu prüfen sind. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie einen bestimmten Blick auf die Welt spiegeln. Es ist wichtig, dass wir unsere Kolleg*innen handwerklich ausbilden, KI-Tools anzuwenden. Gleichzeitig müssen wir verantwortlich, sehr kritisch und wachsam mit dem Output umgehen. Wenn wir das nicht tun, wird Kommunikation nur Hergebrachtes weiter betonieren und zu keinen positiven Veränderungen beitragen. Das treibt mich um, denn es besteht definitiv die Gefahr, dass wir zwar über angehäuftes, bestehendes Wissen in Form von Daten verfügen, daraus aber nichts wird, was uns weiterhelfen könnte.

Du hast noch eine zweite Veränderung erwähnt, die dich umtreibt. Die im Bereich Leadership. Was gibt dir da zu denken?


Wir entwickeln uns hin zu einer Gesellschaft wachsender Diversität, Gleichstellung und Inklusion. Das empfinde ich als wertvoll und wichtig. Aber obwohl ich schon so lange an mir als Führungskraft arbeite, fordert das Führen von diversen, gleichgestellten und inklusiven Teams doch noch einmal andere Skills. Ich finde, es braucht viel Empathie, Wirkkraft, Klarheit, das Leben von Werten, Bescheidenheit und Vertrauen. Aber finden wir diese Kombination bereits allenthalben? Ich bin der Überzeugung, Führungskräfte sollten mehr und mehr im Dienste ihrer Teams und Mitarbeitenden stehen und sich für deren ganz individuelle Persönlichkeits- und Fachentwicklung verantwortlich fühlen. Natürlich immer mit einem fokussierten Blick aufs Unternehmensziel.

Was für Fähigkeiten brauchen Führungskräfte denn zukünftig besonders?


Menschen, die Menschen führen, müssen noch stärker lernen, ohne Sehnsucht nach ihresgleichen oder das Bedürfnis, gefallen zu wollen, zu führen. Es wird immer wichtiger, den einzelnen Menschen wirklich zu kennen, bestenfalls zu erkennen, und entsprechend seiner Struktur zu fördern und zu fordern. Es sollten Einsatzbereiche aber auch radikal verändert werden, wenn sie nicht passen. Und damit meine ich nicht das Handwerkliche, sondern ich meine eine Veränderung entsprechend der Persönlichkeitsstruktur.

Das setzt eine andere und neue Teamdynamik frei, die auf den ersten Blick viel konfliktreicher erscheinen mag. Voller Interesse und Respekt und mit gemeinsamen Werten in einen Diskurs zu gehen, sich aneinander zu reiben, um zu lernen – das ist eine veränderte Teamkultur, nach der wir streben sollten. Und das ist ein total neues Gefühl für ein Team, das sich als „funktionierendes Team“ beschreibt.

Was liegt da in deiner Verantwortung als Arbeitgeberin?


Ich bin zukünftig noch viel verantwortlicher für einen sicheren Rahmen und Raum, in dem wir uns als Team nicht nur wiederfinden, sondern in dem die individuelle Einzigartigkeit wirklich gelebt werden kann. Ich wünsche mir, dass wir mehr und mehr dahin kommen, dass wir Andersartigkeit nicht nur respektieren und tolerieren, sondern dass wir uns aktiv für sie interessieren und sie wie selbstverständlich in die Gestaltung der Beziehung zueinander einfließen lassen. Ein*e Kolleg*in, der seine/die ihre Welt durch die ADHS-Brille wahrnimmt, ein*e Kolleg*in, der/die Rassismus erlebt, ein*e Kolleg*in, der seine/die ihre Religion nicht frei lebt, ein*e Kolleg*in, der/die mit einer chronischen mentalen Erkrankung lebt, ein*e Kolleg*in, der/die Gewalt zu Hause erlebt, ein*e Kolleg*in, der/die auf ʼnem Schuldenberg sitzt, weil er/sie als 16-Jährige*r aus problematischen Familienstrukturen ausgebrochen ist und dann Ausbildung oder Studium aus eigener Kraft bewerkstelligt hat … Das alles sollte in unser berufliches Miteinander einfließen.

Wir wandeln uns zum Glück mit dem morgendlichen Arbeitsstart nicht in Maschinen. Unsere Einzigartigkeit ist immer präsent. Und entsprechende Konstellationen führen zu Spannungen. Prozesse laufen auch mal nicht „zackig“, Unverständnis und Frustration können entstehen. Aber ich möchte dies lieber als eine Ansammlung von einzelnen Bühnenstars. Ich möchte, dass wir alle in unserer Struktur aufmerksam, aktiv und gestaltend tätig sind. Dass wir Interesse zeigen und in Beziehung treten. Ich möchte, dass wir uns während der Zeit, in der wir beruflich zusammen sind, erkennen und gemeinsam entwickeln. Das meint nicht, auf ewig zusammenzubleiben. Im Gegenteil. In einem derart geprägten Miteinander wird viel offenkundiger, ob Arbeitgeber*in oder Führungskraft und Arbeitnehmer*in zusammenpassen. Das ist alles ganz schön fordernd. Ich selbst lasse mich daher in regelmäßigen Coaching-Sessions dabei begleiten, diesen Weg als Führungskraft sicher zu gehen.

Was bedeutet der Begriff „Chefin“ für dich?

Chefin war ich – glaube ich – noch nie wirklich. Jetzt bin ich aber sogar noch weniger denn je Vorgesetzte (außer natürlich in kaufmännischen/administrativen Verantwortungsbereichen). Ich bin eher in verschiedenen Rollen und als Orientierungspunkt für alle bei mir verfügbar. Ich bewege mich eher wie ein Scharnier zwischen den Teams und den einzelnen Menschen. Ich verstehe mich als Absenderin von „Mary“, manifestiere so wenig wie möglich unsere Kultur. Denn die Kultur wird von allen bei Achtung! Mary mitgestaltet. Jede Mary, die geht, nimmt etwas mit. Und jede Mary, die kommt, fügt einen Teil hinzu. Absolut niemand ist ersetzbar. Ich wünsche mir, dass sich alle klar, aber mit Respekt miteinander auseinandersetzen und sich dafür interessieren, wer wie und warum agiert oder reagiert.

Dann siehst du deine Hauptaufgabe mit Blick auf die Marys, wie du sie liebevoll nennst, worin?


Ganz einfach: Hauptverantwortung einer Führungskraft ist es, zu kommunizieren. Und zwar wirklich zu kommunizieren, nicht zu chatten, zu monologisieren oder Infos zu versenden. Sondern so zu kommunizieren, dass es der eigentlichen Herkunft des Wortes gerecht wird. Kommunizieren kommt ja von commūnicāre. Und das meint, etwas gemeinsam, gemeinschaftlich zu machen. Es wird daher und mit Blick auf die vorhin beschriebenen Herausforderungen zukünftig noch mehr um Coaching, Mediations- und Kommunikationsfähigkeiten gehen. Die Fachexpertise hingegen wird in unserer Branche einen immer kleineren Aspekt der Führungsqualifikation darstellen.

Was genau machst du anders als vor ein paar Jahren?

An mich wird in der Regel immer weniger reportet. Ich werde hingegen eher als Sparringspartnerin gefragt. Ich bekomme so von den Persönlichkeiten bei Achtung! Mary viel, viel mehr mit. Gerade dann, wenn auf irgendeiner Ebene etwas nicht „gut“ läuft. Ich bin dadurch nicht die letzte Eskalationsstufe, sondern werde in Entwicklungen eingebunden. Ich erfahre schlechte Nachrichten fast schneller als Gelungenes, weil keine Scheu besteht. Ich werde gefragt, um zu unterstützen oder zu schützen. Aber auch kleine und große Momente der Freude werden frei und voller Emotion mit mir geteilt. Ich biete Möglichkeiten, innerhalb unserer Agentur eigenständig Projekte und Themen zu initiieren. Ich gebe Anstöße, aber nicht den Weg vor.

Wie geht es dir persönlich mit diesen Umwälzungen?

Ich bin ein sehr neugieriger Mensch. Ich fühle mich wohl in Situationen und Umgebungen, die ich nicht kenne. Ich mag es sehr, Dinge einfach auszuprobieren, und orientiere mich gerne an jüngeren Generationen. Vielleicht sogar mehr als an meiner oder älteren Generationen. Ich suche nie Sicherheit in Stabilität oder halte an den Dingen fest, von denen ich weiß, dass sie eh irgendwann überholt sein werden. Ich erkenne sehr früh Entwicklungen. Und auch wenn gerade alles „gut“ und „sonnig“ erscheinen mag, beschäftige ich mich einfach gerne bereits mit den Wolken, die aufziehen könnten.